KI und Natürliches am Jahresbeginn - 26.1.2024
Themenfreie Lesung weitet den Blick
Kurzversion für Presse und Eilige:
Für die erste Lesung des Jahres gab Moderator Dr. Boris Schneider kein einschränkendes Thema an seine Autorenfreunde und die Gastleser aus. Als er am letzten Januarfreitag um 19 Uhr im Landsberger Café FilmBühne die Leserunde eröffnete, staunten die Zuhörer über den neuen Sprachstil des Moderators. Bis er den Schleier lüftete und preisgab, dass ChatGPT die Begrüßung geschrieben hatte. Und als der erste Gastleser Jürgen Schulze gleich sein jüngstes Werk zu eben diesem Thema mit Entwicklung und Erkenntnisstand zur Künstlichen Intelligenz pointiert vorstellte, ahnte man, dass ein besonderer Abend seinen Anfang nahm.
Denn geschärft wie nie zuvor folgten die Sinne der Anwesenden der Vielfalt der Themen und Stile. Sie ließen sich mitreißen von spannendem Neuem und träumten romantisch Vergangenem hinterher. Sie erlebten Stadt-Land-Unterschiede, knüpften fantastische Freundschaft mit einem Schmetterling und erklommen einige Höhenmeter Spiritualität. Sie hangelten sich an Tiergottheiten und der Klappermaschine entlang zum Wunder-Doktor Wald und gleich dahinter mit Goethes weitem Echo bis zum Herrn des Nichts. Wobei den Schmetterling und den paradiesischen Chef die Gastleser George Olivier Pessianis und Mirlo Verdad beisteuerten. Dazwischen ließ das Los Thomas Glatz, Corinne Haberl, Martje Herzog, Barbara Koopmann, Carmen Kraus, Angelika Müller, Marianne Porsche-Rohrer und Klaus Wuchner zu Wort kommen. Schließlich löste die Aufstellung zum Gruppenbild Glieder und Zunge und befeuerte noch angeregte Diskussionen. Am 23. Februar ist es wieder soweit: Der Lesereigen geht in seine zweite Runde.
Breites Spektrum kreativen Schreibens
Die lange Version für Genießer:
Mal wieder eine ganz freie Lesung, sogar ohne vorgegebenes Thema, diesen Wunsch richtete Moderator Dr. Boris Schneider im Vorfeld an die Autorenrunde und via Presse auch in die Fläche rund um Landsberg. Gastleser und Zuhörer waren ausdrücklich willkommen und nutzten dieses Angebot um 19 Uhr am letzten Januarfreitag im Café FilmBühne. In jeder Hinsicht zwanglos, war die anmeldungsfreie Anwesenheit der Autoren eine ebensolche Überraschungstüte wie die Reihenfolge der Beiträge. Denn wie im Autorenkreis üblich kamen die Namen der Lesewilligen in einen Topf, äh Mütze, und wurden von dort ausgelost.
Den Jahresanfang, das nun 20-jährige Bestehen des Kreises, die Abwesenden und ihre Gründe sprach der Moderator in der kurzen Eingangsrede an – um dann mit Freude in die Runde zu schauen und festzustellen, dass selbst lange Vermisste gekommen waren, auch wenn sich einige von ihnen aufs bloße Zuhören beschränkten. Gleich drei Gastautoren waren erschienen, die sich mit ihren Büchern oder Texten vorstellen wollten, und auch das stimmte die Runde fröhlich-neugierig.
Dann las Boris Schneider eine Begrüßung vor, die den Autorenkreis in den höchsten Tönen lobte: seine Vielfalt der Texte, die mit Sorgfalt und Liebe geschaffen seien, und die Autoren, die offen für die Kraft seien, die in der Kunst des Erzählens liegt … Je länger er las, desto skeptischer wurde man. Das war gar nicht sein Stil, er war doch der Herr knapper, präziser Aussagen, die Spannung in sich tragen. Woher hatte er diesen Text? Genüsslich ließ er das Vorgetragene kurz wirken und löste dann auf: „Schreibe bitte eine dreiminütige Begrüßung für eine freie Lesung des Landsberger Autorenkreises“, hatte er mit Hilfe seines Sohnes am 21.01.2024 bei ChatGPT in Auftrag gegeben. Und ohne Korrektur oder Ergänzung den Text [111 KB]
vorgetragen, der dabei herauskam. Da war nun das Staunen doch groß, weil man es „der Maschine“ nicht zugetraut hatte, dass überhaupt etwas Brauchbares dabei rauskommt.
Wissend, dass er ein Buch zum aktuellen KI-Stand hier vorstellen wollte, lud der Moderator gleich anschließend Gastautor Jürgen Schulze zum Vortrag ein. Seit 1984 publiziert der IT-Ingenieur, seit 2001 vor allem zu Informationssicherheit. 2007 nahm Künstliche Intelligenz ihren Anfang im Erkennen natürlicher Sprache, 2021 beschäftigte er sich mit Mensch-zentrierter KI, die er 2023 im eBook beschreibt. Viele Links führen darin zu aktuellen Berichten, um Aussagen zu belegen und die Sichtweise zu weiten. In Kürze folgt schon eine zweite Auflage, die berücksichtigt, dass KI derzeit in vielen Disziplinen neu gedacht wird und laufend Ergebnisse, Einschätzungen und Prognosen hinzukommen.
Dr. Boris Schneider dankte Jürgen Schulze für das Öffnen dieser Tür und schlug vor, im für den 12. März geplanten Werkstattgespräch dem Bereich KI einen ganzen Abend zu widmen. Dem pflichteten die anwesenden Autorenfreunde bei.
Das Los lud Martje Herzog als nächste Lesende ein. Seit dem Gründungsjahr 2004 ist die Filmkritikerin und Heilpraktikerin im Autorenkreis, hatte davor schon Bücher verfasst, auch zu den Reisen, die sie mit ihrem damaligen Mann Werner Herzog zu Schauplätzen der Kinobranche gemacht hatte. Aktuell schreibt sie einen Roman über die Mädchenjahre einer „norddeutschen Landpomeranze“ 1942-1965. Mit viel künstlerischer Freiheit ausgestattet, trägt er auch einige autobiografische Züge. In ihrem Lesebeitrag führte sie das Aufeinanderprallen von großstädtischer Aufgesetztheit und einfachem Landleben bei einer Familienfeier vor Augen.
Gastleser George Olivier Pessianis wurde ausgelost. Der in Paris geborene Grieche aus dem Fuchstal schreibt Kinderbücher und hat bereits einige soweit, dass sie bebildert und publiziert werden können. Zu seiner Geschichte vom kleinen Elefanten hatte er für diesen Abend schon mal selbst eine Zeichnung angefertigt. In Auszügen las er von dem kleinen Schwergewicht, das nicht so sein will wie die anderen in seinem Umfeld, also lieber leicht und wendig wie der Schmetterling. Eine Geschichte von Freundschaft und Treue, aber auch, vom Chamäleon gelernter, Verwandlung und abenteuerlicher Erweiterung.
Klaus Wuchner, als Motivator Gründungsmitglied des Autorenkreises und bis heute sein größter Förderer, liebt als Rentner und Tagträumer seinen Garten über alles und wandert für sein Leben gern. In „130 Höhenmeter“ führt sein Text, gelesen von Boris Schneider, auf einen Höhenweg, am Kloster vorbei, zu einer kleinen Andacht und in den Klosterladen, in dem er interessante Devotionalien entdeckt. Geschrieben hat er ihn in einem persönlichen Höhenflug, als er nur drei Tage nach seiner Corona-Erkrankung erstaunlich gut den zwölf Kilometer langen Weg bewältigte.
Angelika Müller ist im Kreis bekannt für ihre feinen, zuweilen mit spitzer Feder geschriebenen Gedichte. Die Zeile „Die Düfte des Südes sammeln für die Nächte des Alltags“ hatte sie lyrisch dazu inspiriert, die Sorgen in ihren Wald zu tragen, sie sollten sich nicht ihn ihrem Herz verfangen, schon lieber dort in den Bäumen abhängen. In einer „Nachlese“ schaute sie – „Weißt du noch?“ auf die Zeit zurück, da die Sonne nur für sie beide schien, auf das Glück, das ewig dauern sollte … „Weißt du’s noch?“
Rege Gespräche füllten die Pause und bauten die Spannung in kurzen Wegen durch den Raum ab. Man freute sich übers Wiedersehen nach fast einem Monat (seit dem Silvesterbrunch) oder länger, auch mit den Autorinnen Hannelore Warreyn und Heidenore Glatz, und die interessanten Eindrücke von den Gastlesern.
Carmen Kraus, seit 2010 im Autorenkreis, las Gedichte, die gegen Jahresende aus literarischen Impulsen von Marlen-Christine Kühnel gewachsen sind. So hatte sie fast alle Wörter aus Rilkes „Winterweißen Nächten“ zu ihrem Gedicht „Rilkes Nächte durchgerüttelt“ verbaut. Daraus entstand Gesellschaftskritisches zum nüchternen Umgang mit dem Christlichen: „Kapellenlos ist unser Leben, ganz frei von Diamantenstaub“, oft nur noch im Advent emotional unterbrochen von Nächten, „die uns so fromm von gestern scheinen“. Eine Herausforderung war Friedrich Hebbels „Traum und Poesie“, in dessen freiem Rhythmus sie ihre eigenen Vorstellungen von fesselnden Träumen wiedergab. Am Schluss bezog sie in sprachliche Traumsplitter auch Namens- und Themenfetzen von verstorbenen Autoren aus dem Kreis mit ein: da „GIEBELn SINGERetten auf sehbeerenbreit INIRECHENden Fliegenpelzen, / flitterhafte BOHNlibriflügel in borstenSTEDELnden MaidenRITTNERn, / FeuerBERG GLATZernder Stehauspflügler pulsorend am Firnament“.
Ganz anders Barbara Koopmann, die ebenfalls mit einem eigenen Traum aufwartete, in dem sich allerdings ein Schimpanse von Ast zu Ast hangelte, „hoch zum Vogelhäuschen“. Die Versuche, dessen tiefere Bedeutung auf üblichen Wegen zu ergründen – Stress, Samsara-Wiedergeburten, buddhistische Tiergottheiten – blieben lehrreich, aber in der Sache unbefriedigend. Erst bei Jane Goodall und Peter Sloterdijk fand sie Ansätze für ihre eigene Interpretation: Sie, die gern mal zur gleichen Zeit überall sein will, mit unterschiedlichen Menschen an verschiedenen Orten, soll mit dem Bild des Primaten vor Augen die Leichtigkeit des Seins entdecken, das Spiel, die Lebensfreude, die aus Neugier und Spannung wächst: „Du musst dein Leben ändern“, neue „Sprünge“ wagen und mutig-vergnügt die Selbstentwicklung fortsetzen.
Seit 2004 ist auch Corinne Haberl im Autorenkreis, bekannt für ihr „Haettusvaedi! Tagebuch einer Island-Reise“ und bemerkenswerte experimentelle Lyrik, jüngst mit ihren auch zeitkritischen Wimmelbildern in Hinterglasmalerei – derzeit in zwei Ausstellungen, in der Zedergalerie Landsberg und in Eresing. Zum Lesen hatte sie „weiteres aus der Menagerie“ dabei, wobei sie als Ghostwriterin von Mizzi und Polly deren Gedanken im Alltag mit den Zweibeinern, speziell mit der Lebensgefährtin, genannt Mama, in einen Briefwechsel auf der „Klappermaschine“ schreibt. Doch die dahinplätschernden Tage wurden neulich unterbrochen durch eine Dampflok. Gespickt mit animalischen Sichtweisen: „Den Zweibeinern geht es schlecht, weil sie ihre Mäuse selbst fangen müssen“ und Übertreibungen: „größer als du und ich, von hier bis Honolulu“ wird das Ding beschrieben, das aussieht „wie meine Mama“, aber nicht so roch, Blechmonster-mäßig „dröhnte wie bei den Trollen“ und heiß war wie eine alte Rostlaube. Grippe eben.
Gedichte statt Beipackzettel kredenzte Apothekerin und Heilpraktikerin Marianne Porsche-Rohrer aus ihrem inzwischen 13. Buch: „Herzgesundheit“, denn Lachen ist die halbe Miete zum Gesunden. „Hering, Barsche, Kabeljau machen fit, gesund und schlau.“ Jahreszeitenunabhängig sorgt Achtsamkeit für gute Stimmung und „Energie an allen Enden“. Und auch Doktor Wald wirkt Wunder, „auf milde Weise und kostenlos in jedem Falle“. „Freunde haben ist fürwahr ganz und gar elementar“ und „Einsamkeit kein Thema mehr, Single sein ist dann nicht schwer“. Solch herzhaften Reimen ist einfach nichts mehr hinzuzufügen.
Sozialpädagoge und Künstler – geht das zusammen? Der lebende Beweis ist Thomas Glatz, der in den Münchner DomagkAteliers 2004 gerade ein Open Mic organisierte, als sein Vater Helmut Glatz ihn bat, doch auch mal in seinem gerade aus der Taufe gehobenen Landsberger Autorenkreis etwas vorzutragen. Der Sohn nutzte die Gelegenheit, um im Gegenzug seinen Vater in sein eigenes Projekt einzuladen – und so kam es, dass Vater und Sohn gemeinsam eine Geschichte aus Helmuts skurril-bayerischem „Knacke und Beißl“ lasen. Und Thomas zum Autorenkreis kam. Welch ein Gewinn! „Goethe rufen“, trug er an diesem Abend vor, dieses „Über allen Wipfeln ist Ruh“, aber mit geilem Echo! Und die Kurzgeschichte ohne Wolke am Himmel. „Grau, trist und kurz“ eben.
Das Beste kommt zum Schluss, sagt eine Redensart. Ist das so? „Paradies. Er will doch nur spielen“ – Mirlo Verdad, Künstlername aus Amsel und Wahrheit, stellte sein neues Buch vor. Wer will da spielen? Kein geringerer als Gott. Wer da mal nicht an Rilkes Spiegel-Spieler-Gott denkt. „Gott ist tot? Schön wär’s. Denn nichts ist gefährlicher als ein urlaubsreifer Chef!“ Nach dem zweiten Satz gab es keinen unaufmerksamen Zuhörer mehr im Raum. „Dem Herrn des Nichts fehlte glücklicherweise alles. Er war einfach sein eigener Tod.“ Musste jetzt eine Job-Ausschreibung her? „Alles Denkbare begann mit dem Ursingle.“ Und: „Mochte der Falke kommen.“ Erstaunt lauschte man den minutiös ausgearbeiteten Gedankensträngen und ertappte sich dabei, Falke und Turm schon wieder bei Rilke zu verorten. Doch während jener in lyrischer Knappheit zu Werke ging, wurde hier mit messerscharfer Präzision jedes Detail ausgeleuchtet, mal in Prosa, mal als Gedicht. Eigentlich schade, dass auch dieser Leser hier nur 8 Minuten hatte. „Lieber intelligente Kunst als künstliche Intelligenz“, lautet sein Motto. Ja, gern, und bitte mehr davon beim nächsten Mal.
Eine reiche Lesung ging zu Ende, die Aufstellung zum Gruppenbild löste die Sitzordnung auf und man unterhielt sich noch eine ganze Weile angeregt über das eine oder andere Gehörte. Kopffitness, Herzfitness, alles inklusive. Marianne konnte stolz auf uns sein. Keiner, der sich nicht aufs nächste Zusammensein gefreut hätte, Neugier inklusive.
Carmen B. Kraus