Freie Lesung Schlittenfahrt - 16.3.2023
Früher war alles … weißer
Roland Greißl hieß die Anwesenden willkommen. Sichtlich bewegt teilte er mit, dass Heinz Otto Singer, langjähriges Mitglied des Autorenkreises, vor wenigen Tagen, am 1. März, im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Heinz Otto war erst um 2015 in den Kreis gekommen, seine klugen, nahezu perfekten und dabei stets mit einem besonderen Charme ausgestatteten Gedichte waren allerseits ebenso beliebt wie sein sonniges Gemüt. Roland bat um eine Schweigeminute zum Gedenken und alle leisteten dem gern Folge.
Martje Herzog übernahm anschließend die Moderation der Lesung zum Thema „Schlittenfahren“.
Klaus Wuchner erinnerte sich an seine erste Schlittenfahrt mit dem Vater, im schneereichen Winter vor mehr als 70 Jahren. Es war Krieg, sein Vater kurz im Heimaturlaub. Ein Foto von diesem Kurzurlaub stand immer auf der Anrichte, und die Erinnerung daran begleitete den Heranwachsenden durch die lange Abwesenheit des Vaters in Krieg und anschließender Gefangenschaft. Klaus Wuchners Text las Barbara Koopmann für ihn vor.
Auch Barbara Koopmann erinnerte sich an die schneereichen Winter mit kurzen Schlittenfahrten. In ihrer Heimatstadt Berlin ging es vom Kreuzberg, mitten in der Stadt gelegen, hinunter auf die Straße zu all den anderen Kindern. Zu Hause sorgte dann die verhaltene Wärme der Nachkriegszeit für Geborgenheit.
Boris Schneiders Geschichte erzählt von Leo, einem kleinen Jungen, der mit Freude das Schlittschuhlaufen erlernen möchte. Doch mit Druck von außen, von Seiten des Trainers, ist das nicht einfach. Da ergreift der kleine Leo eine List und erzählt vom Greifvogel und dem Schneegreifweibchen, die ihm helfen können.
Roland Greißl hatte in seiner Kindheit einen Schutzengel, an den er fest glaubte und der ihn bei seiner Schlittenfahrt im tiefen Schnee fliegend über die gefährliche Heckenrose hinweghob. Jenes starke Gefühl von Zuversicht und Vertrauen auf den Engel lässt ihn bis heute an Wunder, an Engel glauben. „Glück gehabt“ ist nur die Meinung seines Umfelds zu dem Vorfall.
An den Weihnachtsmann, der auf dem Schlitten zu den Kindern flog und seine Geschenke brachte, glaubte der kleine Benno von Rechenberg lange. Ein Fest ist ihm besonders gegenwärtig: Die Festvorbereitungen waren getätigt, da fuhr der Schlitten auf eine Tafel mit dem Hinweis „Weihnachten ist verschoben“ zu. Erst zehn Jahre später sollte er wieder in den Genuss einer Schlittenfahrt kommen, als der Krieg zu Ende war.
Martje Herzogs Geschichte von Emma, die autobiografische Züge trägt, beinhaltet ebenfalls eine Schlittenfahrt. Emma war „Steuermann“ auf dem Schlitten und fuhr auf der Strecke für die Kleinen. Zwei große Mädchen verursachten einen Unfall, und abgelenkt davon landete Emma in einem Baum. Sie erlitt starke Schmerzen und glaubte sich im Himmel. Die Verletzung von damals traumatisiert sie zeit ihres Lebens.
So spiegelten alle Texte Erinnerungen aus weit zurückliegender Kindheit und Jugend wider. Denn die ersten Erlebnisse sind fest im Leben verankert und bis heute jederzeit greifbar.
Carmen Kraus las dank einer stabilen Verbindung zur Homepage des Autorenkreises dann noch zwei Gedichte aus der Leseprobe von Heinz Otto Singer. Damit konnten auch jene, die erst seit Kurzem im Kreis sind, den verstorbenen Autorenfreund ein Stück weit kennenlernen.
Boris Schneider stellt noch kurz sein jüngstes Werk vor, das soeben erschienen ist: „Liebes-Märchen aus fernen Ländern“. Auf das völlig neue Genre, das der Fantasy-Autor hier bedient, darf man gespannt sein.
Gasthörer Franz Keimig, praktizierender Philosoph und Leiter einer Gesprächsrunde in Landsberg, warf einige interessante Fragestellungen in den Raum, und so saßen die Autoren noch lange beisammen. Im Austausch ihrer Gedanken und Erfahrungen unterhielten sie sich gut. Das Jugendthema wurde nochmal aufgegriffen, etwa die heutige Jugend und ihre Andersartigkeit, dem Zeitgeist entsprechend. Doch im Vergleich mit der eigenen Jugend, die seit Jahrzehnten ins Land gegangen ist, ergaben sich auch interessante Übereinstimmungen.
Um 22 Uhr verabschiedeten sich die Autoren und dankten Frau Gilk für ihre Gastlichkeit im Café FilmBühne. Das Werkstattgespräch „Tierisches“ erwartete die meisten von ihnen schon eine Woche später mit neuen spannenden Beiträgen.
Barbara Koopmann
Foto: Franz Keimig