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Freie Lesung Aufbruch - 18.03.2016 Langversion

Aufbruch: Woher? Wozu? Wohin?

Gastleserinnen Petra und Monika
Gastleserinnen Petra und Monika


Moderator Roland Greißl begrüßte im Restaurant „Il Lago di Garda“ Autoren und Gäste des Landsberger Autorenkreises. Als Themenschwerpunkt nannte er den Begriff „Aufbruch“, den jeder aus seinem eigenen Leben und Erleben kennt: den Aufbruch des Frühlings, der Natur, den seelischen Aufbruch und Wandel, den Aufbruch von Asylbewerbern aus vielen Teilen der Welt, der die Gemüter bewegt. Traditionell bewährt, wurden die Leseaufforderungen nach dem Zufallsprinzip aus dem Hut gezogen.
Angelika Müller begann die Leserunde mit gereimten Zeilen über den Aufbruch ins Leben und begleitenden Worten ins Erwachsenwerden. Im nachfolgenden Reimgedicht „Völkerwanderung“ schilderte sie bewegende Eindrücke und Stimmungen zur Flüchtlingsthematik. Abschließend beschrieb sie in ihrem Prosagedicht „Mittagsbegegnung“ das Aufeinandertreffen mit einer Flüchtlingsfamilie, die verbalen und nonverbalen Mitteilungen und ihre Neugier und führte die Zuhörer bewusst in der Ichperspektive durch ihre Gedanken, während sie die dankenden Worte der Flüchtlingsfamilie wahrnahm, und sie bekannte: „Ich höre bestürzt zu.“ Unverhofft brach die Schilderung mit einem „Ich …“ab – ein offenes Ende, dessen Schweigen in den Köpfen der Zuhörer nachhallte.
Gastleserin Monika Sadegor zauberte als Losfee, ganz zu ihrem Erstaunen, ihren eigenen Namen aus dem Hut. In ihrem Prosawerk „Übergang“ vermittelte sie positive Gedanken über das Loslassen, das Werden und die persönliche Entwicklung, vom Gesetz des Wandels, dem „Rhythmus und ewigen Pulsschlag des Lebens, dem Brückenschlag zwischen Alt und Neu, den es gilt, immer wieder zu wagen“ und forderte dazu auf, mutig den Weg nach vorne zu beschreiten, zu positiver Weltsicht und Erfahrung, zu einem neuen Leben.
Roland Greißl war mit seinem Lesebeitrag an Prägnanz der Überschriften kaum zu überbieten. Inhaltlich wagte er sich an das schwierige Thema Flucht und beschrieb drei verschiedene Aufbruchsituationen: In „Aufbruch I“ beleuchtete er das grausame Schicksal eines Menschen, der nach qualvoll erlebtem Leid seinen Aufbruch in eine bessere Zeit beendet sah. Sein Tod war ihm Erlösung.
In „Aufbruch II“ schilderte er die politischen Entwicklungen in Afrika während des Krieges von Eritrea mit Äthiopien, die Widrigkeiten, mit denen Flüchtlinge aus Eritrea konfrontiert wurden. Greißl griff das Einzelschicksal eines 20-jährigen Eritreers heraus, dessen Brüder umgebracht worden waren und der sich mit einem völlig überfüllten seeuntüchtigen Boot aufmachte über das Meer zu fliehen. Das Boot sank. In bewusst schlichten Worten spiegelte er die Ignoranz der europäischen Zeitungen.
In „Aufbruch III“ berichtete er über Mohammad, dessen Familie bei einem Luftangriff getötet wurde. Als einziger Überlebender entschloss er sich zum Aufbruch in eine andere Welt. Als er vier Monate später München erreicht hatte, begann ein neuer Aufbruch. Greißls Lesebeitrag mündete in gereimte Zeilen über die Wahrnehmungen der 2015 „ersten“ begrüßten Menschen, das Strahlen in den Gesichtern der Begrüßenden, deren Freundlichkeit, und stellte aus der Perspektive des Flüchtlings die Frage in den Raum: „Ist’s das Ende meiner Qualen, der Beginn einer neuen Zeit?“ Mohammad verstand nicht, was die Leute sagten, aber er deutete ihre Mimik, ihr herzliches Willkommenslachen und spürte das Wohlwollen hinter dieser Hilfe, das sich anschickte, sein Leid zu lindern und die Krise zu meistern.
Greißl skizzierte schließlich den Aufbruch der Menschen hierzulande, den Flüchtenden zu helfen, und die Beziehungen, die dadurch entstehen. Welchen Hürden die Flüchtenden doch ausgesetzt sind: die Sprache, all das Fremde, die andere Lebensweise. Neben den guten Bestrebungen beschrieb er auch die Ängste, die bei vielen entstehen und die durch politisch rechte Gedanken genährt werden.
Paul Heinrich Wendland eröffnete seinen Aufbruch mit zwei kurzen Frühlingstexten. In „Frühlingssirenen“, einem reimlosen Gedicht über zurückgekehrte Stare und knospende Bäume, malte er in knappen poetischen Worten ein farbiges Bild des Erwachens der Natur. Ein Reimgedicht entfaltete danach in lyrischen Bildern den frühlingshaften Aufbruch einer Trauerweide, die keine Spur von Trauer trägt.
Dann thematisierte Paul H. Wendland in „Wir Menschen“ das Streben, das die Menschheit in unserer Zeit bewegt, ihre technische Entwicklung, ihr Machtstreben, ihr Griff nach fernen Welten – um festzustellen, dass wir auf Erden zuerst die Menschlichkeit lernen sollten. Er sprach das Wettrüsten an, die Grenzen und Schranken, die wir errichten – physischer wie auch ideologischer und religiöser Art –, die Leid und Qual bereiten. Die Machtgier führt zu Kriegen und treibt Mitmenschen zu Flucht in Not und Tod. Und er stellte fest: „Wir benutzen Worte wie Freiheit, Leben und Liebe, und haben deren Sinn noch gar nicht erfasst.“ In „Wie bin ich Mensch?“ zeichnete er einen selbstkritischen Gedankenaufbruch, den inneren Wandel, der sich im Alltagsleben offenbart durch die Art, wie wir uns geben, wie wir handeln und walten und Mitmenschlichkeit leben.
Schließlich las der Autor sein Gedicht „Aufbruchzeit“ aus der Anthologie „Zwischen den Toren“ des Landsberger Autorenkreises, der den Aufbruch zu geistiger Entwicklung und menschlicher Kultur in lyrisch kraftvollen Worten beleuchtet.
Corinne Haberl ging nicht allein zum Lesepult. Auf dem Arm trug sie ihre Begleiterin Miezi, ein acht Monate junges rabenschwarzes Kätzchen mit rotem Halsband. In ihrem Beitrag „Schöne Grüße aus der Intensivstation“ malte sie emotionale Bilder von Wahrnehmungen und Gefühlen, gab Einblicke in eine Krisensituation, die nur knapp bewältigt werden konnte. Bewegend beschrieb sie ihre Eindrücke in einem von Maschinen und Lauten geprägten künstlichen Umfeld.
Als zweiten Beitrag trug sie „Fernschreiben an mein alter Ego“ vor, den sie 2015 beim Bonner Literaturkreis zum Thema Labyrinth eingereicht hatte. Darin zeichnete sie zunächst ein Bild resignierter Ohnmacht und Einsamkeit, um dann Kraft zu schöpfen für einen Weg, der aus dem Labyrinth führt, für Zeit zum Denken und Hoffen, was im Schreiben Ausdruck findet und die Seele befreit.
Max Dietz begann mit dem Gedicht „Zwischen den Stühlen“, das er Anfang der 1970er Jahre verfasst hatte. Es handelte vom Monopoly um Macht und Geld, vom Zustand der Kultur, die auf der Stelle steht. Aus der Sicht eines Moraleunuchen zeichnete er ein poetisch satirisches Bild, das uns auch in diesen Tagen bekannt vorkommt. Sein zweites, mundartlich gefärbtes Reimgedicht war ein politisch kluges, kabarettistisches Werk, das er wenige Tage vor dem Anschlag auf die Zwillingstürme verfasst hatte. Was er damals, durch das aktuelle Geschehen belastet, nicht mehr zu präsentieren wagte, bot heute eine eigenartig präzise Sicht der politischen Landschaft, als hätte er die kommende Katastrophe bereits geahnt.
In „Ersehnte Befreiung“ trug Max Dietz ein Reimgedicht voller Poesie über die geistige Befreiung eines Menschen vor. Abschließend präsentierte er mit „Metamorphose“ einen persönlichen Aufbruch, in dem er feststellt: „Begreife mit dem Herzen, entriegele Deinen Geist. Tu und es ist getan.“
Lore Kienzl kam ohne Mappe und Blätter. In freier Rede erzählte sie über ihre Erfahrungen mit 14 Flüchtlingen, die im Nachbarhaus leben. Eingangs umriss sie die Situation im Ort und schilderte dann, wie sich 14 Personen auf 120 Quadratmetern eine Küche und ein Bad teilen, so dass pro Flüchtling nur 7,5 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Dann schilderte sie, was ihr gleich in den ersten Wochen bei Ankunft einer großen Holzlieferung widerfahren war: die liebevolle Hilfsbereitschaft dieser syrischen Flüchtlingsgruppe. Als sie sich bei den Helfern mit einem Essen bei sich zu Hause bedankte, erfuhr sie mehr über diese fleißigen Menschen: ein Anwalt, ein Koch, ein Ingenieur und einige, die weder schreiben noch lesen konnten. Intelligente Menschen, die nun endlich zur Schule gehen konnten und sehr rasch lernten. Lore Kienzl stellte fest, dass die Neuankömmlinge viel draußen auf der Straße sind und sich wundern, dass es bei uns so still zugeht. Sie fügte an, dass uns die Durchmischung, das unkomplizierte Beisammensein gut täten.
Petra Hinterstößer vermittelte in ihrem „Aufbruch“ ihre lyrischen Gedanken zur Flüchtlingskrise mit sehr viel Empathie. Aus der Sicht der Flüchtenden beschrieb sie die Flucht übers Meer, ihre Eindrücke und Wahrnehmungen, sprach von Menschlichkeit und Dankbarkeit. Völlig zu Recht stellte sie – mit Bezug auf die kontroverse Diskussion über Flüchtlingshilfe und Ablehnung von Flüchtlingen – fest, dass wir Menschen nichts dafür können, wo wir geboren sind, wir seien alle Gäste dieser Welt. Ein klarer Gedanke, der von vielen in den europäischen Wohlstand Hineingeborenen nachempfunden werden kann und dessen spürbare Tragweite solidarisch tätig werden lässt und zum Helfen anregt.
Reinhard Wendland schilderte in seiner Erzähllyrik „Flucht“ die Vertreibung und Flucht einer Familie aus dem Osten Europas gegen Ende des Zweiten Weltkrieges: ihre Flucht vor der Roten Armee und ihr Ankommen in der neuen Heimat, die Erfahrungen, die sie hier machen mussten – und schlug damit den Bogen zur heutigen Ablehnung von Asylsuchenden. Als Sohn jener Generation, die in ihrer Kindheit Flucht und Vertreibung erlebt hatte, war er mit den Geschichten, Erlebnissen und Erfahrungen dieser teils unbewältigten Vergangenheit vertraut.
Fred Fraas erzählte in Reimen das Schicksal eines 14-Jährigen aus Aleppo, der flüchten musste: „Gestern, da bin ich noch glücklich gewesen.“ In treffenden Reimen führte er die Zuhörer in Ichperspektive durch die Heimat des Flüchtlings, betrachtete den Umschwung von einem ruhigen Leben zu kriegerischen Auseinandersetzungen, den Konflikt mit der ISIS, den Fluchtweg über Land und Meer. Er beschrieb das Sinken des Bootes, den Verlust der Familie auf dem Weg nach Deutschland und schließlich seine Eindrücke in der Fremde: Die Last der Bürokratie, die gute Aufnahme im neuen Zuhause, aber auch die Ablehnung mancher hier fürstlich Lebenden spürte er nach. Das Gedicht ließ der Autor mit einer ernsten, nachdenklichen Frage enden: „Muss ich schon wieder flüchten, trotz Weißbrot und Butter?“
Helmut Glatz gewährte mit „Von Tachau nach Dachau“ in einprägsamer Weise Einblicke in sein eigenes Erleben als Vertriebener aus den tschechischen Gebieten. Er beschrieb das eigenartige Gefühl, rechtlos zu sein, vorsichtig, wachsam, fluchtbereit, erinnerte sich aber auch an glückliche Stunden, an die Geborgenheit in einem Anwesen, in dem sie sich verstecken mussten: „Die Welt befand sich in einer Art Schwebezustand. Was vorher richtig war, war jetzt falsch.“ Bittere Erfahrungen der Vertriebenen vermittelte er: „Bedauerte man die Ausgewiesenen anfangs noch, so kippte bald die Stimmung.“ In bildhafter Ausführlichkeit schilderte er die Fahrt zwischen Wachen und Träumen, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Hoffnungen und Gerüchten, das Erleben zwischen Jubel und Depression – in oft spitzbübischer Sicht eines Jungen, der seinen ganz eigenen Blick auf das „gelobte Land“ warf.
Heidenore Glatz fragte in „Ein bisschen Frieden“ nach den Gründen, warum Menschen Asyl suchen, bezweifelte, ob wir diese Fragen überhaupt beantworten können, ob wir dafür noch offen sind? Sie sieht unsere Aufgabe darin, den Gestrandeten die Hand zu reichen, auch wenn es nicht einfach wird, weil Kulturen aufeinanderprallen. Und sie macht Mut, es als Europa gemeinsam zu bewältigen. Im letzten Lesebeitrag des Abends berührte Heidenore Glatz die Zuhörer mit ihrem Gedicht „Aufbruch“, jenem Aufbruch alter Menschen in ein neues Sein, der wieder alles verändert.
Abschließend bedankte sich Moderator Roland Greißl für die Textauswahl und erklärte, dass es ihm ein Anliegen sei, nach all den vielfältigen Beiträgen in einem Jahr nochmals im Autorenkreis eine Lesung zu veranstalten, dann mit dem Thema „Ankunft?“ oder „Angekommen?“. Besonnen fügte er hinzu, dass die Bedenkenträger wohl nicht nur Unrecht haben, und meinte, vielleicht wüssten wir in einem Jahr mehr, vielleicht würden wir in einem Jahr anders darüber denken. Allerdings hoffte er auch, dass unsere Freude und unser Optimismus in einem Jahr noch Bestand haben werden.

Reinhard Wendland